Holzung

Zeichnung (c) Olivia Weiß

1

An einem Abend im März kam Vater früher als sonst nach Hause. Ich will dir sagen, was das bedeutet. Es bedeutet, dass die Tür aufknallt und niemand hingeht, um sie zu schließen. Ein paar Schneeflocken schneiten auf den Holzboden herein, da war Vater schon auf der Küchenbank eingesunken, die Finger um den Schaft seiner Axt geschlossen. Zwischen den buschigen Augenbrauen lief das Schmelzwasser bis an seine Nasenspitze hinunter, das sah aus, als wäre etwas in ihm undicht geworden.

Er fragte: „Wollt ihr wissen, was los ist? Wollt ihr das wissen?“

Wir wollten das aber nicht wissen.

Ein Täubchen war mit ihm aus der Kälte zu uns in die Stube hereingehüpft und schüttelte sich an der Türschwelle den Schnee aus dem Gefieder. Der Anblick war ihm eine Provokation, das sah man daran, wie sich seine Stirn in Zornesfalten warf. Er fuhr mit dem Daumen über die Klinge der Axt und lächelte.

Wenn ich von Vater erzähle, sollte ich auch von den Holzspänen erzählen, die eine Spur bilden vom Vorplatz, wo er das Holz schlägt, bis hinein in die Stube. Was das bedeutet, willst du wissen? Es bedeutet, dass man bis zu den Knöcheln darin versinkt, wenn man bei Tisch sitzt.

Mutter war ans Fenster gegangen und hatte dem fetten Täubchen zwei Körner hingeworfen. Die fraß es und schiss auf das Fensterbrett und flog auf das Dach, wo es gegen die Schindeln pickte, als wollte es uns Löcher hineinschlagen.

Ich wusste, Mutter überlegte jetzt wieder, wie sie hier weg kam. Sie hatte auch die letzten Abende darüber nachgedacht, aufrecht im Bett sitzend, die Stirn in die Handfläche gedrückt. Aber es fiel ihr nicht ein.

Ich will dir sagen, wie die Nächte hier sind. Ich schlafe nicht mehr. Ich hebe die Dachluke einen Spalt weit auf und blicke hinab ins elterliche Schlafzimmer. Vor zwei Tagen, als sie glaubte, alle würden schon schlafen, nahm Mutter das Tintenfass aus Vaters Schreibtisch. Sie schrieb einen Brief und ging hinaus in einen silbrigen Schnee, das Wort Abschied trocknete hinter ihr neben dem erschöpften Schnarchen des Vaters. Aber am nächsten Morgen stand sie wieder in der Küche. Sie drückte sich das Brot zwischen die Brüste und schnitt uns jedem zwei Scheiben herab, und als sie es hinlegte, war da ein weißer Kranz aus Mehl an ihrem Nachthemd.

2

Vaters Interesse an diesem Abend galt Dingen, die gar nicht vorhanden waren. Er interessierte sich für das, was man nicht zu Tisch trug, er interessierte sich für die leeren Hände. Was war das nur alles, was sie da nicht zu Tisch trug! Und er strich jetzt wieder mit dem Daumen über die Klinge und sagte dann so plötzlich, wie ein Hund am Gartentor gegen einen Fremden anschlägt: „Ich werde euch sagen, was los ist! Ich bin hungrig und will essen. Das ist es!“

Er hatte Recht. Es war nichts zu biegen und nichts zu beißen mehr in der Stube, in der ganzen Küche kein Stück Brot mehr, und die Suppe – er roch es – war der gestrige Sud aus Kartoffelschalen und geraspelter Buchenrinde. Die hatten wir gestern nicht essen wollen und wollten es heute nicht.

Am Rande des Dorfes lebte ein Holzfäller mit seiner Frau und seinen Kindern – das war er. Und dann steckte er den Daumen in den Mund, nahm ihn wieder heraus und beleckte einen kleinen Riss, den er darauf entdeckt hatte, mit seiner kurzen, breiten Zunge und spuckte in die Holzspäne, dass es raschelte.

„Nichts mehr“, sagte er.

Immer, wenn er etwas sagte, blieb die Welt um ihn stehen. Das war auch gut so, denn es ließ Zeit genug, um zu sehen, wie seine Augen in den grauen Höhlen rollten, zuerst in diese Richtung, dann in die andere, einmal hinauf Richtung Dach, wo das Täubchen uns an den Schindeln pickte, und einmal zu Mutter, die sich den dampfenden Topf zwischen die Brüste drückte. Und dann kullerten die Pupillen nicht mehr weiter. Er saß einfach da und dachte.

Es ist nicht gut, wenn einer denkt, der nicht denken kann. Einer wie Vater schlägt die Axt in die Bäume und trägt das Holz in der Bütte ins Dorf. Das Denken strengte Vater an, er war nicht gut darin, aber er gefiel sich darin, schob sogar das Kinn in die Gabel zwischen Daumen und Zeigefinger.

Er sah jetzt aus wie ein Mann, der dabei war sich in einen verzweifelten, aber befreienden Gedanken einzubetten.

Da wuchs eine Idee in ihm heran, von der wir alle nur wussten, dass wir sie fürchten mussten.

Eine große Teuerung war ins Land gezogen, und allerorten krachten die Mägen und schrien die Kinder in ihren Wiegen. Und Vater beugte sich jetzt vor und spuckte einen lose gewordenen Zahn in die Späne.

Da war ein Holzfäller, der hatte viele Schulden angehäuft bei einer alten Frau im Dorf. Er kehrte zu früh am Abend aus dem Wald zurück und ließ die Eingangstür weit offen stehen. Er tauchte wortlos die Kelle in den Suppentopf. Er leckte die geraspelte Buchenrinde vom Löffel als wären das Fleischstücke und sagte dann: „Wenn nur diese Alte doch endlich verrecken wollte!“

Er sah sich um, aber mit ihm und dem Wind und der Kälte war ja auch die Stille in die Hütte eingezogen und niemand gab ihm Antwort. Also sprang er auf und warf die Kelle zurück in den Topf und war mit zwei Schritten am Fenster. Er wollte bis ins Dorf sehen, aber der Blick reichte nur bis an den Kartoffelacker hinter dem Vordach, auf den der Schnee gefallen war, und an die Wand aus Bäumen dahinter.

Und war da kein Leuchten im grauen, starren Wald, das Hoffnung gab. Der Wind blies den Schnee bis zwischen die Schüsseln am Tisch blies, wo unsere Arme lagen.

„Wenn die Alte nicht mit sich reden lässt“, sagte er, „kann ich für die Zukunft nur noch die Bretter für unsere Särge hobeln.“

Es ist nicht gut, wenn einer lacht, der nichts zu lachen hat: Einmal, zweimal, dreimal, viermal lachte der Vater und schüttelte sich, und schüttelte mit jedem Lachen auch einen Finger aus seiner Faust heraus: Das waren unsere Särge.

Dann lief er fort und ließ die Nacht über die Bäume fallen. Mutter scheuerte den Topf mit Sand und Schwester und ich kehrten den Schnee vom Vordach. Einmal sah sie hoch und sagte: „Nun ist’s um uns geschehen.“ Mutter und ich blickten sie an. Und niemand widersprach.

Vater kehrte erst nachts heim. Ich hob die Luke an und blickte hinab in den Schmerz, der unter mir an den Gesichtern fraß. Lange sprachen die Eltern. Dann ging Vater zu Bett, und Mutter saß allein am Nachttisch. Die Lampe malte ihren Schatten ruhig an die Wand, und als sie das Rädchen etwas herabdrehte aus Angst vor der Schelte über das verschwendete Öl, sank auch ihr Schatten ein wenig in sich zusammen. Sie sagte die Zauberworte, das waren dreimal Lieber Gott und siebenmal das Wort Scheiße. Und als sie es zum achten Mal ausgestoßen hatte, knarrte der Boden neben mir und zwei Augen blinkten im Dunkel, die waren wie mit fettiger Salbe beschmiert, so sehr glänzten sie.

„Hast du das gehört?“, flüsterte die Schwester.

Und ich sagte: „Ja, sie wollen uns loswerden.“

Ein graues Nachtkleid schwebte jetzt unter uns hinaus in diese schneegleißende Nacht, und flatterte dort draußen unter dem Mond und hob und senkte sich und zitterte im Schneestaub. Die Mutter war das, die sich in das Licht zwischen den Schneewechten unter dem Vordach kniete und von dort so laut zu uns heraufweinte, dass es uns schauderte.

3

Wir würden ihn alle in den Wald begleiten, sagte Vater am nächsten Morgen. Er steckte den Kopf durch die Luke zu uns nach oben in die Dachkammer. Ich hatte Angst, ihn so zufrieden zu sehen.

Wir bissen in Fladen aus Sägespänen und drückten die Tassen an die Lippen. Und später half ich Vater beim Angurten seiner Bütte, und das Täubchen schrie dreimal vom Dach zu uns herab.

Vater sagte: „Willst du nicht die Axt für mich tragen? Du bist doch alt genug!“

Alles marschierte hinaus in einen strahlenden Morgen, nur Mutter war an der Eingangstür stehen geblieben. Aber als sie sah, dass alles Geborene dem Vater nachlief in den Wald, wo er am dicksten war, verließ auch sie die Hütte, und ihre weißen, dürren Waden jagten uns voraus durch den Schnee, und sie heulte und lachte im Irrsinn.

„Sieh her“, sagte die Schwester. Sie nahm mich beiseite und öffnete einen Beutel. Darin lagen Steine, die sie gesammelt hatte. Sie wollte alle zehn Schritte einen in den Schnee fallen lassen, damit wir den Weg zurück fänden.

„Warum willst du das tun?“, fragte ich. „Wozu denn zurück?“

„Wir müssen zurück“, sagte sie. „Da gibt es keine Wahl.“

4

Der Wald beherbergt das Reh und den Dachs und die kleinen Amseln, die von Ast zu Ast fliegen, um ihre Liebsten zu rufen. „Und der Wald“, sagte Vater, als wir mittags auf einem Baumstumpf rasteten, „beherbergt auch den Hungertod.“

Er lachte und spuckte dabei etwas Speichel, der traf das nackte Gestrüpp und schäumte dort und fror zu einem Klumpen. Und der Schnee in seinen Haaren war wie Mehl.

Vater stellte die Butte vor sich. Als er den Arm um mich legte, roch ich die Wärme aus seiner Achselhöhle. Aber du kannst dir schon denken, dass er dafür kein Talent hatte. Ich weiß wohl, dass er mich hatte streicheln wollen. Es war aber vielmehr, als klopfte er mir an den Kopf wie an eine verschlossene Tür, als er sagte, wir seien alt genug, wir sollten es besser haben.

Dann stand er auf und zog die Mutter fort.

„Wir werden jetzt losgehen und Holz schlagen“, sagte er.

„Und wir sollen hierbleiben?“, fragte die Schwester.

Und ich rief: „Aber Vater, womit willst du denn die Bäume schlagen, wenn du die Axt hier lässt?“

Ich sah wohl, dass er diese Fragen hörte, und dass er den Kopf schief legte. Es fielen aber keine Antworten heraus. Er klopfte nur den Schnee von seinem Hosenboden und fasste fester nach der Hand der Mutter. Ein Zittern war in ihn gefahren, das hielt ihn fest. Und endlich weinte er, und dann weinte auch Mutter, und Schwester weinte so stark, dass sie die Augen nicht mehr aufbrachte.

5

Die Eltern kamen nicht wieder. Der Wind, der Wind, der das Kind des Himmels ist, blies uns die scharfen Eiskristalle an die Wangen, die noch den Duft der Buchenrinde in sich trugen.

Wir liefen am Baumstumpf auf und ab und schlugen die Hände gegen die Schenkel, um uns zu wärmen. Und einmal warf ich ein Steinchen nach dem Täubchen, das uns nachgeflogen war, damit es tot herunter fiele. Ich traf es aber nicht.

Da war ein Gedanke in mir, der war sehr hässlich. Ich ging damit auf und ab und trug ihn zwischen meinen Schritten im Schnee im Kopf. Das Wolkenband riss nun ganz auf und bald fiel die Sonne warm durch die stummen Buchen. Die Schneeflocken schmolzen und glitzerten wie Tau an unseren Füßen. Da war ein Unglück vor uns, und es roch nach Harz, das einem die Finger klebrig macht.

„Wir müssen jetzt zurück gehen“, sagte die Schwester. „Sieh nur, wie der Schnee schmilzt!“

Sie wies auf die Steinchen, die dort in den Schneeflecken glitzerten. Sie sagte: „Nein, hier entlang. Hier geht es zurück zum Vaterhaus.“

Ich hielt sie aber fest, und ich war stärker.

6

Das Täubchen flog uns voraus von Baum zu Baum, und wenn es abhob, stiebte es den Schnee aus den Ästen auf uns herab. An einer Lichtung stand ein großes Haus. Dort flatterte es hoch bis an den Schornstein, um sich am Rauch die Flügel zu wärmen.

Ich will dir zuerst erzählen, wie es hier roch. Du weißt, dass Schwester und ich im Wald aufgewachsen sind. Wenn uns jemand gefragt hätte, was Essen ist, dann hätten wir gesagt: ja, Essen, das ist, wenn Mutter den Spitzkohl in ein bisschen Butter schwitzen lässt, und wenn Mehl und Wasser und Buchenrinde sich im Ofen zu zähen Fladen aufblähen. Aber was rochen wir jetzt alles durch die halb offen stehenden Fenster! Nach Honig und Fleisch, nach Gewürzen und Wein roch es, und nach so vielem, was wir gar nicht kannten und was uns gierig vor Hunger vor den Fenstern niedersinken ließ.

Ich schlug vor, die Scheiben einzuschlagen, um unseren Hunger zu stillen, aber Schwester wehrte sich und sagte: „Wir müssen sofort umkehren“, obwohl auch ihr der Speichel den Mund flutete. „Umkehren“, „umkehren“, sagte sie fortwährend, und sagte es noch, als die alte Frau plötzlich vor uns im Torbogen stand. Sie war aus dem Haus gekommen und die Treppen zu uns herabgeschlichen bis unter den Torbogen. Eine bronzene Türglocke hing dort über ihrem Kopf, die hatte durch ihre Berührung zu klingen begonnen: ein heller, klarer Ton, und dahinter hing ein halber Mond über dem Schornstein. Wir blickten alle drei dort hin, und konnten nicht sprechen, bis sich der Klang ganz verzogen hatte.

7

„Die Kinder des Holzfällers!“, rief die Frau. Wie wir hierher gekommen seien, wollte sie wissen. Der Wind, der Wind hatte uns hergetragen zu Vaters Gläubigerin.

Sie brachte uns hinkend an die Tür, ein lahmer Fuß war das, der hinter ihr über die Treppen schleifte.

„Was trägst du da?“, fragte sie (die Axt, meine Liebe!). Und sagte sonst nur, was wir schon wussten: dass uns der Hunger in den Augen saß.

Wir zogen den schmelzenden Schmutz unserer Schuhsohlen über die Treppe bis hinauf in ein Speisezimmer, das war größer als alles, was ich je gesehen hatte. Und war da Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Äpfeln und Nüssen auf unseren Tellern, das hatte die Alte vollbracht. Wir zogen die Schuhe aus und gruben die nackten Zehen in den weichen Teppich unter dem Tisch. Und Schwesters Fingernägel bohrten sich tief in meinen Arm, als die Alte fragte, ob uns Vater geschickt habe wegen des Geldes, das er ihr schuldig sei. „Wo ist das Geld?“, wollte sie wissen. „Etwa in diesem Beutel hier?“

Es war aber nichts dort drinnen, nicht einmal mehr Steinchen.

In einem Zimmer unter dem Dach schüttelte sie uns die Decken auf, dass die Daunen bis an die Kronleuchter hochschwebten. „Bringt der Vater denn auch bald das Geld?“, wollte sie wissen. „Bringt er es morgen? Er ist mir zu viel schuldig.“ Sie wandte sich jetzt nach uns um, sie legte mir die Hand an die Wange, das war eine weiche, warme Hand, die nach Kuchen duftete. „Euer Vater wohnt auf meinem Land“, sagte sie, „und was die Mutter euch in die Backen schiebt, ist doch vielmehr mein Brot als ihres, und was ihr in den Ofen werft, mein Holz. Und alles, was euer Vater im Wald schlägt, meines, und ist jede Rübe in eurem Garten meine und jedes Kraut, sogar die Rinde, die ihr von den Buchen nagt, ist doch meine.“

Sie lachte dabei freundlich. Und immer noch schwirrten die Daunen durch die Luft, das sah sehr schön aus. Jetzt griff sie sich nach der Tür im Kamin, sie wollte dort Holz aufs Feuer werfen, damit uns nachts die Kacheln wärmten.

Da schlug ich ihr die Axt auf die Stirn und sie sank nieder und war tot.

Wenn man uns fragte, was Schlaf ist, so hätten wir bis zu diesem Tag geantwortet: Schlaf, das ist, wenn einem die eisige Luft durch die Ritzen unter die Decke fasst. Wenn man die Beine fest an den Körper zieht und darauf wartet, dass die Erschöpfung, die einen einschlafen lässt, endlich größer wird als die Kälte, die einen daran hindert.

Wir hoben den Leichnam und verbrannten ihn im Ofen und lagen warm unter den Decken. Fett glänzte an den Lippen der Schwester im Bett neben mir, das kam von den Pfannkuchen, die wir gegessen, und rosig waren ihre Wangen, das kam von der Wärme des Ofens.

8

Am Morgen räumten wir die goldenen Halsketten aus der Schatulle im Nachtschrank und die kristallenen Trinkbecher aus den Vitrinen. Wir steckten alles in den Beutel, und nahmen auch einen Schinken, der war groß wie ein Knüppel, und Eier und Kartoffeln. Wir traten durch den Torbogen in einen hellen, frischen Morgen und grüßten das Täubchen, das am Schornstein geschlafen hatte.

Am Baumstumpf, an dem wir tags zuvor noch hungrig gesessen waren, bissen wir jetzt in hartgekochte Eier und zogen Gräten geschmorter Fische zwischen den Zähnen heraus. Wir schnalzten mit den Zungen und freuten uns, dass der Schnee auf den Stämmen glitzerte und schmolz.

Die Schwester sagte: „Es ist ein Unglück, wenn wir zurückkehren. Aber zurückkehren müssen wir.“

„Was für ein Unglück?“, wollte ich wissen. „Das Unglück ist doch hinter uns, nicht vor uns!“

Aber sie wiederholte nur: „Es ist ein Unglück.“

9

Noch vor Mittag sahen wir die Hütte der Eltern in der Ferne, und da waren ja auch schon Vater und Mutter. Ich wollte hinlaufen, aber die Schwester hielt mich zurück.

„Was ist denn?“, fragte ich. „Wovor hast du Angst?“

Sie sagte: „Vor dem Unglück dort habe ich Angst. Vor nichts als dem Unglück dort.“

Und dann riss sie den Mund so weit auf, dass man das Zäpfchen sehen konnte, und war nichts als ein Tier und brüllte und fiel auf die Erde und schlug mit den Fäusten ins Gras, wo es warm war von der Sonne.

10

Vater und Mutter schwebten über der Eingangstür unter dem Vordach, wo Vater die Bäume klein schlug, und wo er es Woche für Woche dem Kutscher auf den Wagen lud, der in die Stadt fuhr. Wo ihm die Kreuzer in die Hand fielen, und wo er sich bückte, wenn ihm einer durch die Finger rutschte, und wo er jammerte, wie wenig, und wo man ihm nicht mehr zahlte, wo man die fetten Pferde mit dem Holz hinab ins Dorf trieb.

Ich sprach zuerst den Vater an, dann die Mutter, aber sie gaben keinen Laut von sich, nur ihre Arme und Beine schlenkerten, als ein Windstoß unter dem Vordach sie erfasste, und das sah aus, als wollten sie mich fortschicken. Ich tauchte die Hand in den Beutel, aber ich wusste später nicht mehr: Wollte ich ihnen tatsächlich die Ringe an die Finger stecken, bevor ich mir vor Schreck an die Kehle fasste?

Vater und Mutter hatten sich nebeneinander am Giebel unter dem Vordach erhängt. Einige Ringe waren in den Schatten unter ihren Füßen gerollt, und der Wind, der Wind fuhr ihnen jetzt in die Kleidung und bauschte sie auf. Das sah aus, als hätten sie riesige Bäuche fett wie Getreidesäcke.

(erschienen in: Elf Perlen: Neue Märchen aus der Heimat der Gebrüder Grimm, Allitera 2013)